Montag, 19. Oktober 2015

Gabel links, Messer rechts

Die Zivilgesellschaft scheint sich um die Entgleisungen der offenen Demokratie herum zu solidarisieren. So kann man sicher die absolute Mehrheit für die am Samstag niedergestochene Oberbürgermeisterkandidatin Henriette Reker verstehen. "Ein Angriff auf uns alle", der Satz ist in einer solchen Situation billig zu haben. Die Allianz der drei Parteien hinter Reker hätte ihr aber auch ohne die Messerattacke vermutlich das Bürgermeisteramt beschert.

Bedenklich ist der politische Zusammenhang der Attacke allemal. Die Tat richtete sich gegen die vermeintlich liberale Flüchtlingspolitik der Stadt Köln, für die Reker als Sozialdezernentin des aktuellen rot-grünen regierten Stadtrats steht. Sie erfolgte aber auch zwei Tage nach Bekanntgabe der Entscheidung des Verwaltungsgerichts, dass die geplante Demonstration der Hooligans gegen Salafismus, die letztes Jahr zu Krawallen und einer Straßenschlacht mit der Polizei geführt hatte, nicht abgesagt werden darf, wie die Polizei gerne gehabt hätte.

Schon seit einiger Zeit gibt es auch in Köln eine gärende rechte Szene, die gegen den Bau der neuen Moschee mobil machte, bei Unterschriftenaktionen gegen das jüdische Museum und eben bei der HoGeSa-Demo in Erscheinung trat, flankiert von einer inzwischen im Stadtrat dank gefallener 5%-Hürde vertretenen ProKöln Abordnung.

War der Aufschwung rechter Gruppierungen in der Weimarer Republik immer leicht zu befeuern aus der Schlappe eines verlorenen Weltkriegs, der "Schmach von Versailles", einer brutalen Wirtschaftskrise und den damit verbundenen Abstiegsängsten großer Teile der Bevölkerung, so ist das Potential sozialer Benachteiligungen und in nationale Demütigungen umzumünzender Umstrukturierungen der EU heute gewiss geringer. Aber es ist nach wie vor ein Potential, wie man auch in anderen EU-Ländern sieht. Und man sollte die immer mal genannte "Schere zwischen arm und reich" als Winkel, in dem extreme Politik und Widerstand gegen die Demokratie entsteht, nicht unterschätzen.

Erstaunlich ist trotzdem, wie rabiat die Reaktion zum Beispiel auf Großzügigkeiten der Bundeskanzlerin sind. Zwar waren auch in den entsprechenden Jahren des Wirtschaftsbooms die Hälfte der deutschen Bevölkerung gegen die Anwerbung von vier Millionen "Gastarbeitern" und bereits in den vergleichbaren Wellen der Immigration anlässlich des Jugoslawienkrieges waren die pogromartigen Übergriffe auf Flüchtlingsheime und Asylbewerber zahlreich. Seitdem wurden die Kapazitäten zur Aufnahme von Flüchtlingen und Asylbewerbern aber systematisch abgebaut – auch in Köln. Die aktuell genannte Zahl von 450.000 Asylanträgen 2015 ist zwar hoch, aber keineswegs singulär angesichts von 4 Millionen Migranten jährlich in der EU. Und sie steht der beunruhigenden Zahl von jetzt schon 500 Übergriffen auf Flüchtlingsheime, Asylunterkünfte und einzelnen Personen gegenüber.

Von den Zielländern der hiesigen Emigration wird gleichzeitig erwartet, dass sie jedes Jahr etwa 140.000 Deutsche aufnehmen. Das Fremde war schon in Zeiten der Schlagermusik nur dann gewünscht, wenn es sexy war und gut von fremden Ländern sang. Wenke Myhre, Roberto Blanco und Nana Mouskouri durften und mussten sogar Ausländer sein. Ein Ausreiseversprechen für den deutschen Exotismus, kein Einreiseversprechen für in Tunis geborene Südamerikaner oder Griechen.

Mindestens 200.000 Verfolgte emigrierten während des Nationalsozialismus und noch heute kann man den Aufnahmeländern für ihre "Kapazitäten" dankbar sein. Die humanitäre Idee der Aufnahme Verfolgter, die sich als Konsequenz unter anderem daraus in unserem Grundgesetz manifestiert, ist aber offenbar in die Defensive geraten. Die Formulierung einer Krise ist immer ein politisches Instrument, das drastisches, gerne auch an demokratischen Instanzen vorbei zu vollziehendes Handeln erfordert. Die Berichterstattung setzt einerseits  auf die Erkenntnis, dass zu jedem Flüchtling das Schicksal einer besonderen Verfolgung gehört – weil ja niemand freiwillig sein Land verlässt. Der Begriff der "Flüchtlingskrise" in seiner Doppeldeutigkeit, den von Bild bis Tagesschau alle inzwischen verwenden, als wäre Deutschland der eigentliche Kriegsschauplatz und nicht Syrien, setzt andererseits gegen die menschlichen Schicksale Zahlen, Kapazitäten, Zäune, Korridore und Auffanglager und tendenziell immer die Botschaft: Wir können nicht mehr. Das Boot ist voll. Und beides lenkt von den eigentlichen Krisen ab, wie sie Navid Kermani gestern benannte.

Bei allen menschlichen Schicksalen an der ungarischen Grenze war es auch der ARD-Tagesschau zu Beginn des Exodus über den Balkan eine ganze Woche nicht eine Meldung wert, was in Syrien aktuell geschieht, wie die Blockade der verschiedenen Interessen jede klare Perspektive für das Land verhindert. Die zahlreichen Krisenherde in Afrika und bis nach Afghanistan, wo die Interventionen und Rückzüge westlicher Militärs und Wirtschaftsinteressen unklare staatliche Gebilde hinterlassen haben, schaffen es nicht, die Aufmerksamkeitsschwelle zu überwinden, die heutzutage nachrichtentechnisch die EU-Grenze darstellt. Der Putsch in Burkina-Faso entfiel in der Tagesschau sogar ganz. Keine Krise. Als müsste sich das arme reizüberflutete Europa gegen die Schrecknisse außerhalb blind stellen, um mit ihnen klarzukommen. Es ist auch nicht zu erwarten, dass sich an unserer Wahrnehmung etwas ändert, wenn Bürgermeisterkandidatinnen "vor unserer Haustür" niedergestochen werden.

Wir können auch anders


Kurzes Abschlussstatement zu der Veranstaltung des VDD anlässlich der Cologne Conference 2015 

„Wir können auch anders!“ – Erzähltraditionen im deutschen Film zwischen gestern und morgen

Unter diesem Titel trafen sich auf der Cologne Conference Filmemacher, Autoren, Redakteure und Dramaturgen, um sich ein Bild davon zu machen, wie sich Erzählformen und -genres im deutschen Film nach 1945 entwickelt haben.

Bislang gehörte es zu den unhinterfragten Gegebenheiten der Geschichte der deutschen Erzähltradition im Film, dass vor allem historische Brüche das Geschehen bestimmen: das Oberhausener Manifest als Apokalypse der Adenauer Ära, der deutsche Herbst, der Beginn der Kohl-Ära, die Wiedervereinigung.

Bei genauerer Betrachtung liegen die Schnitte und Brüche aber nie so, wie sich das Epochendenken die Verhältnisse wünscht, wenn es überhaupt diese Brüche je außerhalb der Manifeste und Festlegung von „Tendenzen“ gegeben hat: Die Bedingung des Nachkriegsfilms war die Kontinuität über die Nazizeit hinaus. Filmemacher wie Käutner haben ihre besten Filme vielleicht vor den Zeiten der Bundesrepublik gedreht, jedoch keineswegs ihre letzten. Wie Bloch gesagt hätte, „leider“ sind nicht die politisch korrektesten Umstände die beste Garantie für gute Filme.

Papas Kino hat nach der Totsagung in Oberhausen bis in die siebziger Jahre wunderbar als Unterhaltungskino weiterbestanden und Filmemacher, die durch Besetzung einzelner Schauspieler mit dem geschmähten Kino sympathisierten, wurden abgestraft – Peter Schamoni etwa für Willi Birgel in „Schonzeit für Füchse“.

Die letzten Jahre der Adenauer-Ära waren, was die Experimente mit neuen filmischen Formen anbelangte, wesentlich fruchtbarer, als die Theorie des politisch motivierten Epochenwechsels nahelegt. Vielleicht inspiriert durch die Debuts der Nouvelle-Vague-Autoren oder die italienischen Parallelen entstanden mit „Die Halbstarken“, „Playgirl“, „Mädchen, Mädchen“, „48 Stunden von Acapulco“, „Nicht versöhnt“, „Abschied von gestern“, „Zur Sache Schätzchen“, um nur einige heterogene Filme zu nennen, in wenigen Jahren eine Reihe von schroffen Filmgewächsen, die Hans C. Blumenberg als „kleine dreckige Filme“ später immer gegen die meinungsbildenden Großproduktionen von Kluge, Fassbinder, Herzog und Schlöndorff verteidigt hat.

Viele dieser schroffen Jungregisseure von 1966 haben über 1970 hinaus ihren Stil nicht weiterentwickeln können. Viele wurden wegen der Freizügigkeit und Radikalität in Inhalt und Form in Grund und Boden verrissen, bevor die Einflüsse von APO und Flower Power das Klima veränderten. Roger Fritz kam bei der Veranstaltung zu diesem Thema zu Wort. Die Diskussion mit Roland Zag bewies: Noch immer ist offen, ob seine Erzählexperimente als gewaltsame Stunde Null der Dramaturgie zu verstehen sind, die von rebellischen Söhnen und Töchtern alter Nazis ausgerufen wurde oder eher als kalkulierte kühle Antidramaturgie gegen das etablierte Unterhaltungskino.

Dominik Graf brach eine Lanze für die, die nach ihren Teilerfolgen in Deutschland ihr Glück im Italowestern, in Mafiafilmen und anderen B-Movie-Genres gesucht haben. Heute wäre die Präsenz deutscher Schauspieler und Regisseure in Italien nicht vorstellbar. Das Fazit der Recherchen von Johannes Sieverts und Graf in ihrem Film „Verfluchte Liebe deutscher Film“: Diese B-Filme sind erstaunlicherweise meist noch zugänglich, aber schon kurz nach der Vorführung sind viele für immer in den Archiven verschwunden. Der deutsche Filmselbsthass hat auch hier viele Türen zugeschlagen.

Die Herstellung einer eigenen deutschen Filmgeschichte war bei fast allen Teilnehmern der Diskussionen die Voraussetzung für ihre Filmarbeit. Doris Dörrie fand über die Siebziger und Sechziger hinweg in den USA Billy Wilder und Ernst Lubitsch, überhaupt die ins Exil getriebenen oder ermordeten Filmemacher der Weimarer Zeit. Lubitsch ist in Deutschland immer noch viel zitiert aber auch vielfach unbekannt geblieben – eine späte Rache an den Emigrierten. Adolf Winkelmann dagegen fand „Zur Sache Schätzchen“ ärgerlich unpolitisch und suchte zwischen Schlöndorff und dem Heimatfilm einen Platz für eine neue Ruhrgebietskomödie, nachdem er keine Experimentalfilme mehr drehen wollte.

Anderthalb Generationen später: Dietrich Brüggemann setzt sich von der Berliner Schule ab, die ihrerseits gegen die Münchener Beziehungskomödie aufbegehrte und Kluge und Farocki als Schutzpatrone benannte. Bei Brüggemann und Schomburg offensichtlich: Für die Generation, die das Entstehen des Privatfernsehens nicht als Untergang der Welt erleben konnte, in der sie sozialisiert wurden, ist die Barriere zum Fernsehen spätestens gefallen, überhaupt ist die alte leidenschaftliche Diskussion darüber, was ein Fernsehfilm sei und was ein Kinofilm, kaum noch nachvollziehbar.

Doris Dörrie brachte mit ihrem Plädoyer für die Story, das Geschichtenerzählen und die absolute Verpflichtung, nicht zu langweilen, die interessanteste erzähltechnische und über mehrere Panels geführte Diskussion in Gang. Denn die heute jüngeren Filmemacher reagierten teils allergisch auf diese Forderungen, die zu linientreuen, aber erzählerisch langweiligen, dramaturgisch perfekten, aber uninspirierten Filmen geführt habe (Dominik Graf in seinem durchaus positiven Statement zu Tim Fehlbaum: „’Hell’ ist leider total überentwickelt worden. Seine Filme an der Uni waren besser“).

„Überentwicklung“ durch Dramaturgieworkshops und professionelle Geschichtenentwicklungsstrategien hat auch zur Folge, dass die kreativen Abweichungen es heute schwer haben sich durchzusetzen. In den Fragen von Brüggemann und Schomburg: Was ist eine Geschichte? Was ist langweilig? Das kann doch alles sein! Brüggemann: „Künstlerische Freiheit muss man sich nehmen.“ Die Kategorien Story, Langeweile, Emotion und Relevanz sind keine objektiven Kategorien filmischer Stoffe. Das sind ästhetische Kampfbegriffe, die zur Waffe gegen das interessante Erzählen werden können. Nur wohin das Erzählen geht, scheint heute, so jedenfalls die jungen Filmemacher auf dem Podium, unklarer zu sein, als in Zeiten sicherer Feindschaften und Manifeste.

Der deutsche Film ist jedenfalls nach diversen Totschreibungen sehr lebendig, in mehreren parallel arbeitenden Generationen, mit großer Vielfalt der Einzelerscheinungen. Es blieb der etwas ratlose Wunsch, dass nicht nur das Publikum im Ausland, sondern auch das deutsche das bemerkt.

Marcus Seibert


Montag, 22. Juni 2015

Der deutsche Kinofilm

Am Donnerstag 20:00 im Institut Français in Berlin, Kurfürstendamm 211, Eintritt frei:

Gesamtdarstellungen der deutschen Kinolandschaft sind selten geworden. Gewagt hat sie der französische Filmpublizist Pierre Gras.

„Der deutsche Film kann gar nicht besser sein“, nannte Joe Hembus 1961 seine polemische Parteinahme für den Neuen Deutschen Film. Seitdem sind Gesamtdarstellungen der deutschen Kinolandschaft selten geworden. Gewagt hat sie der französische Filmpublizist Pierre Gras mit dem Buch „Good Bye, Fassbinder! Das deutsche Kino nach 1990“ (Alexander Verlag Berlin).Das deutsche Kino hat wieder Anschluss an den internationalen Film gefunden. Filmästhetisch anspruchsvolle Filme werden im Ausland mit einer Aufmerksamkeit wahrgenommen, von der man hierzulande oft nicht viel verspürt, auch wenn deutsche Filme davon profitieren. Pierre Gras diskutiert mit zwei von ihm im Buch hervorgehobenen Filmemachern, Romuald Karmakar und Christoph Hochhäusler, über die Besonderheiten der deutschen Kinolandschaft im internationalen Vergleich. Romuald Karmakar wird ab 2017 im neuen Volksbühnen-Team von Chris Dercon vertreten sein. Hochhäuslers Film „Die Lügen der Sieger“ läuft seit dem 18. Juni im Kino. Moderiert und übersetzt wird die Veranstaltung vom Drehbuchautor Marcus Seibert.
In Zusammenarbeit mit dem Alexander Verlag und dem Bureau du livre.

Montag, 8. Juni 2015

Gefillte Fisch




working copy

Einladung zur Eröffnung der Online-Ausstellung working copy von Boaz Kaizman im Office des PhotoBookMuseums. Die Eröffnung findet in der Körnerstrasse 6-8 statt. Zeitgleich wird das Event via Livestream hier übertragen
12.06.2015 / 20.30 Uhr.PhotoBookMuseum-Office Körnerstraße 6-8, 50823 Köln


You are cordially invited to the opening of the online-exhibition working copy by Boaz Kaizman at the PhotoBookMuseum - office. This event will be live streamed here
June 12th, 2015 / 20:30PhotoBookMuseum-Office Körnerstraße 6-8, 50823 Köln



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http://boazkaizman.de
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Dienstag, 21. April 2015

Stadt mit Haltung?





Der Film „Wem gehört die Stadt – Bürger in Bewegung“ von Anna Ditges dokumentiert ein erstaunliches Kapitel Kölner Lokalpolitik, nämlich den erfolgreichen Bürgerwiderstand gegen die ursprünglich geplante Umgestaltung des Helios-Geländes in Ehrenfeld. Auf dem Gelände steht eine historische Fabrikhalle mit einem Leuchtturm, der vielfach als Wahrzeichen Ehrenfelds gesehen wird, daneben stand bislang „gemischte Bebauung“, wie sie für viele Areale deutscher Nachkriegslandschaft lange Zeit typisch war: ein- bis zweigeschossige Barracken und Hallen, die schnell und in schlechter Bausubstanz um 1950 hochgezogen worden sind, billige Gewerbeflächen für Autoschrauber, Design-Büros, Einzelhändler und einen Independent-Club. Dazwischen offene Flächen mit dem Charme von Halden und verwilderten Gärten: Partygelände, Verschnittgrundstücke, von den neuen Ehrenfeldern als Freiraum empfunden. Durch den Ankauf des Investors Paul Bauwens-Adenauer steht all das in Frage. Gebaut werden sollte auf dem Areal eine Shopping-mall rund um die historische Halle. Die Bürger sind empört und versuchen, auf die Entscheidung Einfluss zu nehmen.

Der Titel des Films stammt aus einem Song der Kölner Band Brings, geschrieben anlässlich des Einsturzes des Kölner Stadtarchivs. Gestellt wird da zu dem in Köln heute noch traumatischen Ereignis die Frage, „wat wirklich zählt / sind et die Minschen oder is et et Jeld?“ Der Song ist ungefähr auf der Mitte des Films als Live-Event des Helios-Festes 2012 zu hören, aber anders als Brings umgeht der Film die in Köln so beliebte grob vereinfachte Gegenüberstellung des bösen Geldes und der guten Menschen. Es geht im Film auch nicht um den sprichwörtlichen Kölner Klüngel, die Umleitung öffentlicher Gelder in private Taschen. Das wäre angesichts des Geldmenschen dieses Films, Paul Bauwens-Adenauer leicht zu haben gewesen. Bereits 2012 war bekannt, dass sein Unternehmen in Köln ein für den Neubau der Fachhochschule bestimmtes Grundstück für 23 Millionen erworben und wenig später für 33 Millionen an die Stadt verkauft hatte. Im Kölner Stadtanzeiger erschien zudem ein Artikel „Stadt ohne Haltung“, in dem Bauwens-Adenauer reichlich Raum gegeben wurde, über Sünden der Stadtmöblierung zu schwadronieren, als gehöre ihm diese Stadt persönlich. Das bleibt jedoch Subtext des bösen Buben, der im On erklärt, dass „Gutmenschentum für ihn das Grässlichste überhaupt“ sei.

Anna Ditges sieht ihren Film nicht als investigatives Stück, sie „will beobachten“. So gelingt es ihr, die komplexen Verstrickungen und inneren Widersprüche der jeweiligen Parteien herauszuarbeiten, wie das anders wohl nicht möglich gewesen wäre. Der böse Bube ist zum Beispiel, wie man überrascht bemerkt, abhängig von „der Politik“ gleich welcher Partei, mit der er in Zukunft noch weiterbauen will und es trifft ihn sogar persönlich, von Leuten der Bürgerinitiative angefeindet zu werden. Die Politik, hier in Person des SPD-Bezirksbürgermeisters Josef Wirges, nimmt auf die vehementen Äußerungen der Bürger Rücksicht, die ja das Wahlvolk darstellen, auch wenn vermutlich kaum einer der Wutbürger die SPD wählt und der Investor CDU-Mann ist. Die Bürgerbewegung wiederum ist als bunter und heterogener Haufen mit einer bunten Sammlung widersprüchlicher Vorstellungen auf bündelnde „Leitideen“ angewiesen, wie sie schließlich von Seiten der Politik auch geliefert werden, nachdem klar ist, dass die Mall keine Gegenliebe findet: Auf das Grundstück soll eine Pilotschule der Inklusion. Das würde auch der böse Bube mitmachen, weil ihm egal ist, wie er mit seinen Immobilien Geld verdient.

Die Farce an diesem fast normalen Vorgang einer Meinungsfindung mit Bürgerbeteiligung führt der Film untergründiger als beispielsweise die Wiechmann-Filmen von Andreas Dresen. Sie speist sich aus den Widersprüchen der Portraits der Protagonisten, insbesondere der Bürgerbewegten selbst, einem neueren Typus Stadtbewohner. Bernd Streitberger von der CDU, Chef der Stadtentwicklungsgesellschaft „Moderne Stadt“ in Köln ruft während einer Sitzung dem Publikum zu „Wenn Sie hier von Gentrifizierung reden, Sie sind ein Teil davon!“ Ein Ruf der sich noch ans Publikum des Films wendet. Moderne Großstädte haben die besondere Spezies des links-alternativen Spät-Hipsters ausgebildet, der ob Prenzlauer Berg oder Ehrenfeld ehemalige Randzonen des Stadtgeschehens für die eigenen Wohn- und Lebensträume entdeckt hat. Diese Träume stehen der Shopping-Mall, wie sie Golfspieler Bauwens-Adenauer favorisiert, diametral gegenüber. Sie setzen auf die Wiederbelegung der Manufaktur und der vorindustriellen Nahrungsmittel, eine atmosphärische Vorstellung von Kreativität und künstlerischer Selbständigkeit, auf das Festhalten an dem, was Manufactum im Retro-Wahlspruch „Es gibt sie noch, die guten Dinge“ zusammengefasst hat. In Ehrenfelder ist die Körnerstraße zur Flaniermeile dieses neuen urbanen Stils geworden, zu dem auch gehört, sich gegen städteplanerische Konzepte zur Wehr zu setzen, jedoch ohne die geschlossene Willensbildung oder Vision, die Bürgerprotesten in den Sechzigern innewohnten. Der Bürgerprotest selbst ist inzwischen gentrifiziert: Obwohl die Protagonisten der Bürgerinitiative multikulturelle Volksnähe und Erdung betonen, treten dort weder Migranten noch Ehrenfelder unter dreißig als Sprecher in Erscheinung. Auch in Ehrenfeld haben sich in den letzten fünfzehn Jahren die Mieten verdoppelt und das multikulturell-proletarische Milieu, das viele Jahrzehnte hier zuhause war, verschwindet allmählich.

Der Film umgeht die naive Unterstützung für den bürgerlichen Protest, die Kamera bleibt auch zu Brings auf Distanz, zeigt kein falsches Idyll einer Pflasterstrandromantik und verzichtet auf Metaphern. Die nüchterne Kamera zeigt die Akteure vor allem bei der Arbeit, in öffentlichen Sitzungen oder in ihren Büros. Die Bürgerinitiative wird durchaus als nostalgischer Club mit egoistischen Motiven sichtbar. Man spürt Ablehnung gegen Veränderung all dessen, woran man sich gewöhnt hat und hilflos wirkende architektonische Planungsbegeisterung von Nichtarchitekten im Gefühl, endlich einmal mitgestalten zu können. Und auch die überraschende Wendung, dass der Vorschlag, eine Inklusionsschule auf dem Gelände zu bauen, den Widerstand mit einem Streich bricht, kommentiert die Filmemacherin nicht, sondern zeigt die Statements der in der Initiative organisierten Architektin Almut Skriver, die sowohl den Wildwuchs der Bauvorstellungen zu kanalisieren versucht, als auch als Einzige klar dem Vorschlag dieser Schule entgegenhält, der Plan widerspreche der bislang leitenden Idee von größeren kulturellen Freiflächen auf dem Areal, wenn nicht gesichert werde, dass ein zukünftiger Schulhof nach Schulschluss geöffnet bleibe oder die Schule ihren Raum beschränkt. Doch man merkt: Niemand will sich den Vorwurf machen lassen, gegen Inklusion, also pädagogisch sinnvolles Miteinander gestimmt zu haben.

Der inzwischen ausgehandelte Kompromiss liegt nun schon jenseits der Dreharbeiten: Gemeinsam haben sich Politik, Bürger und Investor tatsächlich auf den Planungsvorschlag von Ortner & Ortner einigen können, der eine Schule, eine Kulturhalle, Wohnbebauung und Freiflächen vorsieht. Die mit den „Mühen der Ebene“ offenbar besser als die Bürger vertrauten Lokalpolitiker haben also einen Kompromiss herbeigeführt und stehen auch im Film fast wie die Gewinner des Prozesses dar, obwohl Geldknappheit eines Nothaushaltes und fehlende Haltung des Entscheidungspersonals als Grund dafür sichtbar werden, dass es überhaupt zu der Auseinandersetzung gekommen ist: Die besondere Gelassenheit in Kölner Amtsstuben bleibt nicht ausgespart, Aktenordner, die achtlos aus dem Schrank des Stadtplanungsamts gezerrt zu Boden fallen, die vom Zigarettenrauch vergilbten Vorhänge im Bezirksamt Ehrenfeld, man hört formale Bedenken gegen die Verwaltungskosten von Bürgerbeteiligung. Zum Schluss witzelt der türkische Dönerbudenbesitzer nebenan, dessen Bude bleiben darf und der sich bislang immer hat dolmetschen lassen, in bestem Ehrenfeldhumor, sein neuer fünf Meter hoher Dunstabzugskamin werde neben dem Helios-Leuchtturm das neue Wahrzeichen Ehrenfelds. Herr Wirges von der SPD versteht den Witz nicht oder will ihn nicht verstehen. Die großen Verlierer bei der Einigung in Sachen Heliosgelände sind die einfachen Handwerker und die Kleinbetriebe, deren Werkstätten und Hallen im März bereits abgerissen wurden. Das ist die eigentliche Pointe des Films. Auch wer die Protagonisten des Films nicht kennt und mit Ehrenfeld nicht vertraut ist, wird diese Entwicklung, die der Film erzählt, in der eigenen Stadt wiedererkennen.

Montag, 30. März 2015

Was heißt hier Ende?

Das Schöne an den Kritiken Michael Althens ist, von der virtuosen Sprache abgesehen, in der hier über Film gesprochen wird, die Zielsicherheit mit der Althen in seiner Filmleidenschaft an Filmen das aufgespürt hat, was diese Leidenschaft immer wieder neu rechtfertigt. Die Feier des Moments, der Szene, des Blicks, der Geste, die einen alles vergessen lassen, das ist eine Auffassung von Kino, die der Idee des gut geplotteten Scripts nicht unbedingt widerspricht, aber dem Handwerk – und in seiner langweiligeren Version dem Reißbrett – die Trouvaille, die Überraschung und das nicht planbar Unerwartete gegenüberstellt, das vielleicht mehr dafür sorgt, dass Filme „hängen“ bleiben als jeder atemberaubende Plot. Lyrik statt Prosa. Dandytum statt Dogmatik.

Die Schwierigkeit des Epitaphs auf einen Freund ist vielleicht ein Problem, aber gleichzeitig auch eine Stärke des Films "Was heißt hier Ende?" von Dominik Graf. Der Film ist warm und dicht gerade durch diese Nähe und er hat bei mir den München-Film von Graf und Althen noch einmal in Erinnerung gerufen, der für mich ein Zufallsfund auf der Berlinale damals war, weil diese Stadt, mit der ich bislang meine Schwierigkeiten hatte, hier durch die Kombinatorik von hypnotischem Text, atmosphärischen Bildern und Architekturmodellästhetik plötzlich einen eigentümlichen Reiz bekam. Ich erinnere mich noch an einen Satz, in dem der Erzähler gesteht, sich als Jugendlicher unrettbar und erfolglos in ein Mädchen aus der Innenstadt verliebt zu haben, woraus zwar nie etwas wurde, das Modell der Verliebtheit aber gesetzt war und auch blieb.

Althen ist zwei Jahre älter als ich, „war“ muss man ja eigentlich sagen, aber im Film ist das Gegenwart. Die Beschreibung einer Münchener Vorort-Jugend zwischen Leere, Neubausiedlungen und Kino als Lebensalternative kommt mir sehr bekannt vor, auch die Wertschätzung französischer und amerikanischer Filme. Die deutsche Kinolandschaft bot Anfang der Achtziger nur Retrospektiven oder Münchener Schrecklichkeiten. An beides erinnere ich mich gut. Dagegen hat Althen von Anfang an einen Gegenentwurf gesetzt, den er schlüssiger und besser formuliert hat als viele Altersgenossen – meistens nachts. Diesen Text schreibe ich nun auch zufällig nach zehn Uhr. Und das ist gut so, weil um diese Zeit die Erinnerung an die Diskussion nach Vorführung des Films schon etwas unscharf wird, in der Dominik Graf gegen unfähige Jungschauspieler wetterte, gegen die heutigen Studenten und ihre Filmgeschichtsvergessenheit und Kino und Filmkritik generell im Niedergang begriffen sah. Eigenartig, dass dann doch das Material im Dokumentarfilm sich gegen den Filmemacher durchsetzt. Bei ihm scheint das Glas eher halb leer als halb voll zu sein. Schade eigentlich, denn auch von ihm kamen einige Bonmots, zum Beispiel über das Phänomen älterer Filmkritiker, die Filme nur noch verreißen, weil sie „zu viel gesehen“ haben und ihnen irgendwann die Träume abhanden gekommen sind. Zu hoffen ist, dass das nicht auch auf bestimmte Filmemacher zutrifft.

Freitag, 27. Februar 2015

REVOLVER LIVE! (42): DEUTSCH-FRANZÖSISCHER FILMDIALOG

Serge Bozon im Gespräch mit Pierre Gras,
Marcus Seibert und Saskia Walker

Freitag, 6. März 2015

Vorab Kinovorführung im Babylon (Rosa-Luxemburg-Str. 30, 10178 Berlin) 18:30 „Mods“ von Serge Bozon

Um 20 Uhr
Im Roten Salon der Volksbühne

Mit großem Interesse verfolgt Revolver seit Langem Filmemacher des Nachbarlands Frankreich. Serge Bozon, eine Schlüsselfigur des neuen französischen Kinos, war in Heft 30 mit einer Streitschrift vertreten und soll hier mit seiner Arbeit vorgestellt werden. Symptomatisch für die deutsche Aufmerksamkeit auf junge französische Filmemacher: Bozons letzter Film „Tiptop“ lief 2013 in Cannes, aber nicht in deutschen Kinos. Wir nehmen diese Lücke zum Anlass für ein Werkstattgespräch mit dem Filmemacher. Daran beteiligt sein wird auch der Autor Pierre Gras, der zuletzt Leiter des ACID, der französischen Vereinigung unabhängiger Kinomacher war. Sein Buch über das deutsche Kino nach der Wende „Good Bye Fassbinder!“ ist gerade in deutscher Übersetzung erschienen. Der Drehbuchautor und Rohmer-Übersetzer Marcus Seibert wird mit ihm zusammen die Veranstaltung moderieren. Simultandolmetscherin ist die Filmemacherin Saskia Walker. Vor der Veranstaltung wird der Film „Mods" von Serge Bozon um 18:30 im Babylon zu sehen sein.

Wir freuen uns,
Marcus und Saskia

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VOLKSBÜHNE AM ROSA-LUXEMBURG-PLATZ
Linienstraße 227, 10178 Berlin
030 240655

Tickets 8,- Euro bzw. 6,- Euro (ermäßigt).