Dienstag, 15. Januar 2013

Werkstattgespräch Bernd Sahling - Text im film-dienst





2004 bekam der Kinderfilm Blindgänger von Bernd Sahling den deutschen Filmpreis. Acht Jahre hat es gedauert, bis er seinen zweiten Spielfilm fertig stellen konnte. Kopfüber spielt in Jena, die Geschichte des Schulversagers Sascha, mit dem die allein erziehende Mutter überfordert ist, und schließlich den Familienhelfer Frank einschaltet. Zu Frank entwickelt Sascha eine schwierige Vaterbeziehung und willigt ihm zuliebe sogar ein, Pillen zu nehmen, als bei ihm ADHS diagnostiziert wird. Das verändert sein Leben.

Der Film wird auf der Berlinale 2013 im Wettbewerb der Sektion Generation/Kplus gezeigt.

Marcus Seibert: Wieso hat es acht Jahre gedauert, bis Sie Ihren zweiten Spielfilm drehen konnten?

Bernd Sahling: Die Finanzierung hat sich über zehn Jahre hingezogen. Das Buch wurde schon 2001, zusammen mit Anja Tuckermann, in der Akademie für Kindermedien entwickelt, in einer der ersten Akademien. Aber es ist uns bis heute nicht gelungen, einen Sender für das Projekt zu gewinnen.

Und warum nicht?

Weil die Geschichte sich genau im Zwischenbereich zwischen Kinderfilm und Erwachsenenfilm befindet. Keiner hat gesagt, das finden wir jetzt völlig blöd. Aber die Mehrheit der Redaktionen war der Meinung, das ist kein Film für Kinder.

Wie kommt es zu der Einschätzung, eine Geschichte über ein Kind aus Kinderperspektive sei kein Kinderfilm?

Zum einen wurde die Erzählweise die wir im Drehbuch beschreiben – nah am Dokumentarfilm – als nicht kindergerecht empfunden. Aber es gab auch inhaltliche Bedenken. Eine befreundete Fernsehredakteurin sagte, „Nimmt der Junge die Pillen gegen ADHS, hat er ein Problem, nimmt er sie nicht, hat er auch eins. Du kannst zu dem Dilemma keine wirkliche Lösung anbieten.“ Ich hab darauf erwidert: „Es gibt so viele Kinder, für deren Probleme wir keine richtige Lösung haben, ist es nicht trotzdem wichtig, dass wir uns filmisch damit auseinandersetzen?“

Aber sie ist bei ihrer Ablehnung geblieben.

Sie entscheidet das ja nicht allein. Aber wir haben bestimmt alle Kinderfilmredaktionen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens ins Deutschland erfolglos mit unserer Geschichte genervt. Diese Separierung in Filme für Kinder und Filme für Erwachsene lässt nichts dazwischen zu – ein sehr deutsches Phänomen. Die Franzosen kennen den Unterschied nicht. Oder in Belgien: Der Junge mit dem Fahrrad, ist das ein Kinderfilm? Der ist aus Kinderperspektive erzählt, lief aber nur im Erwachsenenbereich. Ich finde, ein Film ist ein Film, ist ein Film. Wenn er gut ist, ist er auch gut für Erwachsene, wenn er schlecht ist, ist er wahrscheinlich auch schlecht für Kinder. Kopfüber ist ein Film, der aus der Kinderperspektive eine sehr komplexe Angelegenheit erzählt, von der wir alle nicht verschont bleiben, dass nämlich Kinder dem nicht mehr gewachsen sind, was wir ihnen abverlangen. Bei den Sendern ist sehr umstritten, was man Kindern zumuten kann, an Komplexität, an offenem Ende und auch an Ratlosigkeit.

Die Diskussion über Altersfreigaben und Jugendschutz zeigen allerdings, unter welcher Beobachtung hier die Sender stehen.

Wenn du für Kinder arbeitest, dann weißt du, dass du es mit Minderjährigen zu tun hast, die eine bestimmte Aufnahmefähigkeit, eine bestimmte Verletzlichkeit haben. Nur, wo sind da die Grenzen? Wie oft habe ich das in den Auswahlgremien der Festivals diskutieren müssen, ob man diesen Film zehnjährigen Kindern zumuten kann oder nicht. Wer legt das fest, wer kann das wirklich sagen? Das kommt auf das spezielle Kind an, auf die Eltern und wie sie ein Kind auf einen Film einstimmen. Es ist ungeheuer kompliziert und lässt sich auch nur bedingt sagen, welcher Film sich für welches Alter eignet. Die Entscheidung liegt bei den Eltern, die für ihre Kinder im Kino eine Vielfalt vorfinden sollten. Aber als Filmemacher kannst du dich natürlich auch nicht aus der Verantwortung stehlen.

Das haben Sie ja mit Blindgänger unter Beweis gestellt. Der hat 2004 auch den Fernsehpreis bekommen. Warum war das kein Türöffner?

Du hast hier wenig Bonus, fängst jedes Mal wieder bei null an, sowohl in dem, was man dir zutraut, als auch in den finanziellen Mitteln, wenn man mal von einigen Förderinstitutionen absieht, bei denen man durchaus Vertrauen erntet. Man mag über das krude diktatorische DEFA-System sagen, was man will: Wenn damals einer einen guten Kinderfilm gemacht hat, dann durfte er den zweiten machen. Hier ist es so: Einige schaffen ihren ersten Kinderfilm, der erregt Aufsehen, läuft auf der Berlinale oder beim Goldenen Spatzen und danach machen sie nie wieder einen, weil sie ihn nicht finanziert bekommen. Es gibt viele Projekte, die nach Jahren aufgeben müssen, weil sie die Finanzierung nicht schließen und dann auch zugesagte Förderung nicht mehr abrufen können. Daran leidet der Kinderfilm besonders.

Wie ist es denn nun Kopfüber ohne Senderbeteiligung trotzdem zustande gekommen?

BKM und Kuratorium standen von Anfang an auf unserer Seite. Dann sagte die Mitteldeutsche Filmförderung ganz mutig, wir gehen jetzt als allererste in die Projektförderung rein. Wir haben hier die Sektkorken knallen lassen und dachten, damit ist der Film durch. Es war damals oft so, wenn die erste große Filmförderung fördert, kommen die anderen nach. Kamen aber nicht. Die Ablehnung vom Medienboard war ganz klipp und klar: Fördern wir, wenn ihr einen Sender habt. Ich würde mir eigentlich wünschen, dass wir nicht immer die Fernsehsender unter Druck setzen müssen, mit diesem „ohne euch können wir leider den Kinofilm nicht machen“. Kinoförderung muss möglich sein, ohne dass man zwingend einen Fernsehsender drin hat. Es ist auch kein kleiner Unterschied, ob ein Film im Kino läuft oder zuhause in Konkurrenz mit unzähligen anderen Programmen. Fernsehen hat andere Zwänge als Kino. Die Sender können ja im Nachhinein entscheiden, ob sie einen Kinofilm zeigen wollen.

So ähnlich wird es ja nun mit Kopfüber laufen. Also ein wunderbarer Glücksfall?

Nein, das war es wahrlich nicht. Wir hatten ja inzwischen den dritten Produzenten, Jörg Rothe von der Neuen Mediopolis. Er hat mir mal von seiner Zehnkampfzeit damals in der DDR erzählt und meinte: Als Zehnkämpfer lernst du, nicht aufzugeben. Und er hat auch nicht aufgegeben als sicher war, dass wir keinen Sender überzeugen können. Er ist zu Cineplus gegangen und zu ARRI und hat mit beiden verhandelt, dass sie unter bestimmten Bedingungen Filmrechte bekommen können. Schließlich ist ARRI darauf eingegangen und ist mit Geld und Technik in das Projekt eingestiegen. Wir hoffen schon, dass die Sender, wenn sie den Film jetzt sehen, den noch ankaufen. Wer will nicht nach dem Kino auch im Fernsehen laufen. Es gab ja auch ein Grundinteresse unter anderem beim ZDF. Außerdem - wir alle haben hohe Honorarrückstellungen, die ohne Filmverkäufe nie ausgezahlt werden können.

Sie haben vor einem Jahr zum deutschen Arthouse-Kinderfilm gesagt: Alle fünf Jahre schafft es einer durchzukommen. Wieso hat es der Kinderfilm in Deutschland so schwer?

Es ist ein bisschen besser geworden inzwischen. Es gab Wintertochter. In diesem Jahr werden zwei Arthouse-Filme gedreht. Und unserer ist gerade fertig geworden. Das ist viel. Es hat sich also was getan. Die ganze Initiative im letzten Herbst, die Hoffnung auf das neue Filmförderungsgesetz ... Und die Mitteldeutsche Filmförderung hat immer weiter dran gearbeitet, Kinderfilme zu fördern. Ich bin da ganz großer Hoffnung, dass sich noch mehr tut. Ich würde auch ungern wieder acht Jahre um den nächsten Film kämpfen müssen.

Wie kommt es, dass Sie sich für Kinder- beziehungsweise Jugendlichenstoffe interessiert haben?

Meine Eltern waren Lehrer, ich wollte eigentlich auch Lehrer werden und hatte einen Studienplatz dafür. Ich hab dann noch während der Armee diesen Studienplatz wieder abgesagt. Es stand fest, dass ich irgendwas machen möchte, wo ich auch Fotografie brauche oder Musik, lauter so Sachen, die mich sonst noch interessieren. Da lag der Film sehr nahe. Aber es war immer meine Absicht, trotzdem mit Kindern, mit Jugendlichen und für Kinder und Jugendliche zu arbeiten. Das war auch der Grund warum mir die DEFA Helmut Dziuba als Mentor vorgeschlagen hat, ein großes Glück. Helmut wurde einer meiner besten Freunde und von ihm habe ich das Handwerk gelernt. Da mein Bedürfnis, mit Kindern zu arbeiten, bis heute da ist, sehe ich auch keine Veranlassung, aus rein finanziellen Gründen was ganz anderes zu machen.

Sie haben selbst mal ein paar Jahre als Sozialarbeiter gearbeitet.

95/96 war ich ein Jahr in Amerika und hab noch mal Drehbuchschreiben studiert in Chicago und als ich wiederkam, war's ganz schwer, Fuß zu fassen. Da hab ich dann angefangen, Sozialarbeit zu machen, als Familienhelfer. Vom Film allein konnte ich nicht mehr leben obwohl wir ja damals recht bescheidene Mieten hatten.

Von diesen Erfahrungen lebt der Film?

Der Sozialhelfer Frank, das bin ich. Mir ist es damals passiert, weil ich überhaupt kein Profi war, dass ich tatsächlich so eine Vaterbeziehung entwickelt habe, was total gefährlich ist. Du leidest jedes Mal mehr, wenn der Junge wieder Scheiße baut. Dann hast du das Gefühl, du hast versagt. Und es ist dann auch schlimm, wenn die Betreuung zu Ende geht. Der Kern der Geschichte von Kopfüber ist, dass der Junge wider Willen eine Beziehung zu einem Erwachsenen aufbaut. Da wird ihm so ein Typ an die Seite gestellt, den er generell ablehnt, weil er nicht der Meinung ist, dass er den braucht, der ihm aber gegen Ende des Films etwas bedeutet. Und genau in dem Moment ist er wieder weg. Eine furchtbare Enttäuschung. Und trotzdem hat die Freundschaft zu diesem Mann für ihn Bestand.

Eine Rehabilitierung dieses Berufs.

Auch. Die Sozialarbeiter haben seit Kubricks Clockwork Orange oft eine Macke im Film. Aber ich hab viele Sozialarbeiter von Jugendämtern kennen gelernt, die ganz mühselig versuchen, um Kinder zu kämpfen und ständig überfordert sind und natürlich überfordert sein müssen und dann heftig in der Kritik stehen, wenn etwas schief geht.

Die Frau im Jugendamt wird von einer echten Sozialarbeiterin gespielt.

Mir fiel es sehr schwer, da eine Frau zu besetzen, die das nicht jeden Tag durchmacht.

Und als Hauptdarsteller haben Sie einen Jungen gecastet, der selbst unter der Diagnose ADHS steht.

Die Diagnose hat er nicht, aber die Symptome. Wir haben mit einer Agentur zusammengearbeitet und lange Zeit keinen Jungen gefunden, dem ich die Geschichte glauben konnte. Dann ist die spanische Praktikantin noch mal durch die Fördereinrichtungen gezogen. Unter anderem die Berliner Archen. In einer der drei Archen, am Flughafen Tegel, hat sie mehrere Jungs gefunden, die alle ganz schön krass drauf waren. Die haben meinen halben Garten auseinandergenommen bei den Proben. Da war auch Marcel mit dabei. Die grundlegende Entscheidung war eigentlich dann: Wagen wir einen so langen Dreh mit ihm? Auch von Produzentenseite. Da war ich sehr erstaunt, dass mein Produzent gesagt hat: Du hast Sozialarbeit gemacht, du musst das einschätzen können.

Wäre es nicht trotzdem einfacher gewesen, ein erfahrenes Schauspielkind zu nehmen?

Einfacher schon. Es gibt ja diese alte DEFA-Regel, dass ein Kind nur einmal eine Hauptrolle spielen sollte. Bei der zweiten Rolle hast du mehr damit zu tun, aus ihm rauszukriegen, was beim letzten Mal für den anderen Film gut funktioniert hat. Man bekommt das Kind schwerer in eine emotionale Situation, wo es einfach es selbst sein kann. Deshalb brauchte ich auch für die Rolle diesen Jungen, der ähnliche Konflikte hat und noch nicht beim Film war. Aber es passierte halt das, was passieren musste, dass der Junge manchmal völlig ausgetickt ist. Er hat auch schnell kapiert, dass er ab jetzt nicht mehr austauschbar ist und hat angefangen, uns zu erpressen. Die Schwierigkeit ist, ihn trotzdem immer wieder gern zu haben. Wenn du deinen Haupthelden nicht mehr gern hast, dann brauchst du nicht mehr weiter zu inszenieren. Das betrifft nicht nur die Regie. Und da habe ich über den Stab gestaunt. Aber die haben halt gesehen, was Marcel vor der Kamera macht. Da ist ja den Profis teilweise die Kinnlade runtergefallen. Es haben alle gespürt, dass es sich lohnt, um diesen Jungen nicht nur im Interesse des Films zu kämpfen. Das war das, was ich mit dem Film schaffen wollte, dass dich diese Geschichte nicht mehr loslässt. Dass dich der Junge berührt und du dir deine Meinung dazu bilden kannst.

Wenn Sie von Ausrastern reden: Anders als das Klischee vom ADHS-Kind, das Mobiliar auseinandernimmt, ist Sascha im Film eher ein stiller Junge, der querschießt. Und man weiß oft nicht, hat er ADHS oder schlicht Probleme in seinen Beziehungen zu Erwachsenen.


Warum sollte jemand, der eine Begabung für ADHS hat, keine Beziehungsprobleme haben? Die Frage ist ja auch, worin zeigt sich ADHS und hat er’s wirklich? Hat die Ärztin Recht oder nicht? Es wird gesagt, dass fünfzig Prozent derer, die Medikamente gegen ADHS kriegen, es gar nicht haben und es hilft trotzdem, weil Ritalin die Konzentrationsfähigkeit jedes Menschen verbessert. Ich habe viele Schüler durch meine medienpädagogische Arbeit kennengelernt, die eine ADHS-Diagnose hatten, überhaupt nicht auffällig waren, sich aber tatsächlich nicht länger konzentrieren konnten.

Sie haben den Rohschnitt schon verschiedentlich gezeigt. Wie war die Reaktion?

Erwachsene und Kinder reagieren sehr unterschiedlich. Ich hab hier in der Grundschule mal ein Testscreening gemacht. Die Klasse hat viel gelacht, worüber ich mich total gefreut habe. Aber es kam auch: „Das ist aber schon ne ziemlich traurige Geschichte.“ Ist sie ja auch. Aber dann hat sich eine in der Klasse geoutet als „Ritalinkind“, hatte sie sich vorher nicht getraut! Da ging dann die Diskussion los. Die haben die halbe Stunde, die wir noch hatten, diskutiert und hätten es auch noch länger. Gar nicht mehr über den Film, sondern darüber, wie das ist, wenn ich Pillen nehme.

Die Medikamente gegen ADHS sind umstritten.

Es ist recht einfach, die Medikamente abzulehnen. Inzwischen geht die ganze Diskussion dahin, welche Alternativen es gibt. Aber es sagen viele, die Alternativen sind langwieriger als das Medikament, das ruckzuck wirkt, wenn man es nimmt. Ich muss sagen: ich hab da kein Urteil gefunden. Wenn ich ein Kind hätte, würde ich alles dafür tun, dass es das Medikament nicht nimmt. Andererseits kann ich mir gut vorstellen, dass ich irgendwann in einer Situation bin, wo ich sage: Das ist das einzige, was mir jetzt noch einfällt, womit wir weiterkommen. Was ich oft in der Sozialarbeit erlebt habe, war ja, dass Sohn und Mutter zum ersten Mal wieder einen Kontakt aufbauen konnten, nachdem er das Medikament genommen hat.

Es gibt in Ihren Filmen immer wieder überforderte allein erziehende Mutterfiguren in Konflikt mit Söhnen. Schon in Alles wird gut, der Dokumentation über einen Punker in der DDR.

Es gibt vor allem eine Ähnlichkeit der Mutter im Film zu der Mutter, die ich damals als Familienhelfer betreut habe.

Das sozial engagierte Kino wimmelt trotzdem von vaterlosen Figuren. Auch in Ihren Filmen fehlen die Väter.

Bei der letzten Berlinale hat Generation ein Podiumsgespräch veranstaltet, das hieß: Das ist doch kein Kinderfilm/This is not a childrens film, mit der internationalen Jury. Da sagte, glaube ich, ein holländisches Jurymitglied: Ein Arthouse-Kinderfilm in unserem Land besteht aus einer allein erziehenden Mutter mit einem problematischen Kind das eine soziale Störung hat. Grob gesagt - er beschrieb unseren Film! Aber in Deutschland ist der typische Kinderfilm eher anders: Eine Gruppe von Kindern jagt irgendeinem Verbrecher hinterher und gewinnt am Ende. Das, was er beschrieben hat, haben wir gar nicht. Vielleicht sollten wir unsere Filme austauschen! (lacht)



Dieses Interview erschien im Film-Dienst 21/2012, Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung der Redaktion www.film-dienst.de

Keine Kommentare: