Donnerstag, 16. April 2009

Das leere Blatt

Am Anfang steht das Schweigen, das weiße Blatt Papier. Erst dann kommt das Ur-teil. Durch das Auseinanderfallen der Gegensätze im Satz entsteht eine Teilung und damit Belebung der schweigenden, leeren Welt. Auf einmal ist sie erfüllt mit Bewusstsein, das immer Bewusstsein von etwas ist. Mit jedem Satz schreitet die Teilung weiter voran, die sprachliche Erfassung der unerfassbaren Welt wird kleinteiliger, konkreter. Die Begriffe stoßen sich voneinander ab, erläutern sich gegenseitig. Im Unendlichen schließt sich der Kreis, aus der Vernetzung unendlich vieler Urteile entsteht die Welt neu. So ungefähr stellte sich Hölderlin den Zusammenhang von Sprache und Welt vor. Eine Utopie der möglichen Entsprechung von Sprache und Welt als unendlicher Annäherung durch die unaufhörliche Bildung von Sätzen. Die Utopie voranschreitender sprachlicher Präzision in der Produktion von Text.

Inwieweit diese Präzision der begrifflichen Verkettungen etwas mit der nichtlinearen Welt zu tun hat, bleibt in allen Versuchen, die Kluft zu überbrücken, ungeklärt. Die Pragmatiker lösen das Problem gordisch: Natürlich gibt es die Welt. Wir gehen täglich in unseren Sätzen davon aus, dass den Worten etwas entspricht („und dann musst du an der Ampel links abbiegen...“). Die Pessimisten pflegen das Leben in der Zelle: Die Käfer bleiben in ihren begrifflichen Schachteln für sich, wir in unserem Bewusstseinskäfig für immer allein. Alles andere sind Missverständnisse in fremden Sprachen. Gelingende Kommunikation ist unwahrscheinlich. Und was heißt Gelingen? Dass man an der Ampel am Ende links abbiegt? Dass man jeden Subtext des Gemeinten versteht? Dass man die soziokulturellen Hintergründe des Sprechers beim Verstehen mitrealisiert? Dass man ironisches Sprechen erkennt? Nichts als Unsicherheiten. Doch ohne den unsicheren Brückenschlag der Sprache, der nicht von klarer Information, sondern von der stets bleibenden Unschärfe zehrt, bliebe die Welt schweigend, das Blatt weiß.

Als Mittel der Abbildung taugt Sprache nicht. Jeder Satz schlägt eine willkürliche Schneise in die sichtbare Welt. Es bleibt auf der Strecke, was nicht zugleich gesagt werden konnte oder bei gleicher Beschreibung anders aussehen könnte. Beschreibung ersetzt kein Bild, kein Szenario. Es bleibt eine Lücke, jene Unschärfe, die dem Leser erlaubt, sich statt des Zusammenhangs, der dargestellt werden sollte, zu denken, was er darin lesen will. Doch das Imaginäre hat wenig mit dem Sichtbaren zu tun. Das erlebt jeder, der versucht, ein Drehbuch zu realisieren.

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